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Quellenkunde: Unterlagen zu nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen

 

Allgemeines

 

Die Diskussion über die Tötung von Behinderten durch „Euthanasie“ lässt sich ab Ende des 19. Jahrhunderts in deutschen und ausländischen Veröffentlichungen nachweisen. Im Deutschen Reich führte nach 1918 die Überfüllung der Heil- und Pflegeanstalten u.a. durch psychisch erkrankte ehemalige Soldaten sowie die andauernde Wirtschaftskrise zu radikalen Überlegungen. Doch erst mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten folgten diesen theoretischen Überlegungen konkrete Handlungen. Eine erste Maßnahme war das Zwangssterilisationsgesetz von 1933 und die nun durch das Gesetz legitimierten Unfruchtbarmachungen. Ab 1939 begannen die organisatorischen Vorbereitungen der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen.

Wahrscheinlich im Oktober 1939 unterzeichnete Hitler ein auf den 01.09.1939 zurückdatiertes privates Schreiben, in dem er Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt beauftragte, „…die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Begutachtung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“.[2]

Die Kanzlei des Führers und das Reichsministerium des Innern waren die organisierenden Einrichtungen für die Durchführung der Mordaktion. Beide Institutionen sollten jedoch nicht offiziell als Durchführungsorgane der „Euthanasie“-Maßnahmen in Erscheinung treten. In der Tiergartenstraße 4 in Berlin entstand eine geheime Institution, welche die Tötungen zentral steuerte. Eine irgendwie geartete rechtliche Legitimation der Krankenmorde war trotz des Schreiben Hitlers nicht gegeben, so dass die Tötungsorganisation in Berlin geheim blieb und nur unter der Bezeichnung „T 4“ inoffiziell bekannt war. Die Kanzlei des Führers gründete Tarnor­ganisationen, darunter die Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten. Deren Mitarbeiter kooperierten mit der Abteilung Gesundheitswesen im Reichsministerium des Innern. Die Durchführung der Abtransporte der Behinderten in die Tötungseinrichtungen lag in den Händen der dafür eingerichteten Gemeinnützigen Kranken-Transport-Gesellschaft. Die Abrechnung mit den Kostenträgern erfolgte über die eigens gebildete Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten. Als Organisator und Arbeitgeber trat die Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege auf. Diese Einrichtungen bildeten den organisatorischen Kern der T 4-Zentrale.

In der Anfangsphase war eine wesentliche Aufgabe der T 4-Aktion die Sammlung von Informationen über alle Einrichtungen, in denen physisch und psychisch Behinderte in Deutschland untergebracht waren. Über das Reichsministerium des Inneren stellte man zunächst Listen aller entsprechenden Einrichtungen zusammen. Alle preußischen Regierungspräsidenten sowie die Innenministerien oder entsprechenden Abteilungen der nichtpreußischen Staaten wurden bereits im September 1939 zur Weitergabe von Informationen zur Erfassung sämtlicher im Reichsgebiet befindlicher Anstalten aufgefordert. Diese in der Anfangsphase entstandenen ersten Unterlagen zu den Krankentötungen haben z.T. ihren Weg in Staatsarchive gefunden.

Der Versand der Meldebögen zur Erfassung der Patienten und die weitere Bestimmung ihres Schicksals in der T 4-Zentrale erfolgte nach regionalen Kriterien. Bis zum Sommer 1940 gingen an nahezu 1000 Einrichtungen im Deutschen Reich die Meldebögen mit Begleitschreiben. Es ist daher in den Verwaltungs­akten vieler Einrichtungen möglich, diese Anschreiben zu finden, soweit die Unterlagen verwahrt wurden und erhalten blieben.

In den Versand der Meldebögen waren auch die jeweiligen Landesverwaltungen bzw. in Preußen die Provinzialverwaltung einbezogen. Die vielen tausend nach Berlin gesandten Meldebögen sind nur noch in einzelnen Krankenakten überliefert. Die Meldebögen, die von eigens beauftragten Gutachtern ausgewertet wurden, bildeten die Grundlage für die systematische Ermordung Kranker und Behinderter.

Für die Ermordung der Patientinnen und Patienten aus den psychiatrischen Anstalten und Heimen wurden zeitlich befristet sechs Tötungsanstalten eingerichtet, in denen die Menschen mit Gas getötet und danach eingeäschert wurden:

  • Brandenburg                  Januar 1940 – September 1940
  • Grafeneck                        Januar 1940 – Dezember 1940
  • Hartheim bei Linz       Januar 1940 – Ende 1944
  • Sonnenstein/Pirna     April 1940 – August  1943
  • Bernburg/Saale            September 1940 – April 1943
  • Hadamar                         Januar 1941 – August 1941

Unabhängig von den im Reich beginnenden Euthanasiemaßnahmen fanden schon von September 1939 bis zum Jahresbeginn 1940 Massentötungen von physisch und psychisch Behinderten im besetzten und dann eingegliederten Polen (Gaue Danzig-Westpreußen und Wartheland) und auch von Patienten aus pommerschen und ostpreußischen Einrichtungen statt.

Die an das Reichsministerium des Inneren geschickten Meldebögen wurden von dort an die Reichsarbeitsgemeinschaft weitergeleitet. Mitarbeiter der Büroabteilung fertigten von jedem ausgefüllten Meldebogen mehrere Photokopien an und leiteten diese an die medizinische Abteilung des Hauses weiter. Dort wurden sie an jeweils drei Gutachterärzte verteilt. Nachdem die Gutachter ihre Tätigkeit beendet hatten, schickten sie die Meldebögen an die Reichsarbeitsgemeinschaft nach Berlin zurück. Dort wurden die Zeichen der drei Gutachter auf eine andere Photokopie des ursprünglichen Meldebogens übertragen und einem der beiden Obergutachter vorgelegt. Die Meldebögen bildeten die Grundlage für die Verlegungsaufforderungen an die Heil- und Pflegeanstalten und Heime.

Die Gemeinnützige Krankentransport GmbH erhielt die mit roten Pluszeichen versehenen Bögen und transportierte die genannten Patienten aus den Ursprungsanstalten in Zwischenanstalten und weiter in die Tötungsanstalten. Um die Abtransporte durchführen zu können, wurden die jeweiligen regionalen Verwaltungsstellen in den Ablauf der Aktionen einbezogen. In Preußen traten die Oberpräsidenten als Leiter des Provinzialverbandes in Erscheinung, um in den ihnen unterstellten Heil- und Pflegeanstalten die Verlegungen anzuordnen. In den anderen Ländern waren es die jeweilig zuständigen Landesbehörden. Ebenso führten auch private und kirchlich-diakonische Anstalten beider Konfessionen die Verlegungsanordnungen aus. Da die Anordnung im Namen des Reichsverteidigungskommissars ausgesprochen wurde, gingen die Institutionen von der Rechtmäßigkeit aus.

Aus Geheimhaltungsgründen wurden weder in den Zwischenanstalten noch in den Tötungsanstalten Eintragungen in den Akten vorgenommen. Die Akten, die den zur Ermordung vorgesehenen Patienten mitgegeben wurden, dienten vor allem dazu, die Angehörigen zu informieren und über die Zentrale Verrechnungsstelle die Kostenabrechnungen durchzuführen.

Eine besondere Mordaktion im September 1940 erfasste die jüdischen Anstaltsinsassen und Patienten. Die Erfassung der jüdischen Patienten und Anstaltsbewohner erfolgte nach einem Erlass des Reichsministeriums des Innern. Regional wurden große staatliche Heilanstalten zu Sammelstellen bestimmt, in welche die jüdischen Heimbewohner verlegt wurden. In den Sammelanstalten verblieben die jüdischen Patienten nur kurze Zeit, bis sie gemeinsam abtransportiert und in den Tötungsanstalten, häufig noch am Tag ihrer Ankunft, ermordet wurden. Offizieller Todesort war die angeblich existierende Irrenanstalt Cholm bei Lublin. Im Dezember 1940 erging ein Erlass des Reichsministeriums des Innern, dass jene jüdischen Anstaltsinsassen, die bei der Mordaktion im Herbst 1940 noch nicht erfasst worden waren, zentral in der Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn bei Koblenz unterzubringen seien. 1942 wurden diese Patienten mit anderen jüdischen Bürgern aus dem Raum Koblenz in das Generalgouvernement verschleppt und ermordet.

Bis September 1941 waren in den Gaskammern der Mordaktion T 4 ca. 70.000 Menschen ermordet worden. Trotz aller Versuche der Geheimhaltung war die Kenntnis über die durchgeführten „Euthanasie“-Verbrechen weit verbreitet, die Arbeit der Tötungsanstalten blieb nicht unbemerkt.[3] Die ständigen Fahrten von vollbesetzten Bussen, die leer zurückkehrten, und der Rauch der Krematorien über den Anstalten wurden publik. In den Stimmungsberichten der Gestapo und vereinzelt auch in Predigten von Kirchenvertretern trat die ablehnende Haltung der Bevölkerung gegenüber dem Krankenmord immer wieder hervor. Schließlich beendete Hitler am 24.08.1941 die zentral gesteuerte „Euthanasie“, um die Bevölkerung nicht weiter zu beunruhigen. Die Tötungen von Behinderten gingen aber in anderer Form dezentralisiert bis Kriegsende weiter.

Die T 4-Zentrale setzte ihre Arbeit fort, zunächst noch in Berlin, nach einigen Zwischenstationen ab 1944 in den Räumen der Tötungsanstalt Hartheim.[4] Zu ihren Aufgaben gehörte neben der Verwaltung und Abwicklung der durchgeführten Ermordungen auch die Erfassung neuer Patienten durch weitere Meldebögen. Ende 1944 begann die Vernichtung der Krankenakten und des Schriftgutes der verschiedenen Organisationen und Arbeitsbereiche der T 4-Aktion. Zum Jahreswechsel 1944/1945 zogen die Mitarbeiter mit den übrig gebliebenen rund 30.000 Patientenakten in die Heil- und Pflegeanstalt Pfafferode in Mühlhausen/Thüringen um, wo die Akten verblieben. 1960 gelangten diese Unterlagen in die Hände des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR nach Ost-Berlin und wurden 1990 vom Bundesarchiv übernommen. Sie bilden dort den Bestand R 179 Kanzlei des Führers, Hauptamt IIb.

 

Die folgenden Digitalisate enthalten Unterlagen über drei Opfer der durch die T 4-Zentrale in Berlin organisierten „Euthanasie“-Aktion aus den Jahren 1940 und 1941. Bei zweien ist jeweils ein Meldebogen der T 4 überliefert, die in nur wenigen Akten des Bestands R 179 vorkommen, aber wichtige Informationen zur organisatorischen Durchführung der zentral gesteuerten „Euthanasie“ im Dritten Reich beinhalten.

Beispiele aus dem Bestand R 179 mit mündlichen Erläuterungen:

 

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Anmerkungen:

[1] Die Ausführungen basieren auf der Einleitung zu Deutschland und Österreich im Inventar der Quellen zur Geschichte der nationalsozialistischen „Euthanasieverbrechen“ auf der Homepage des Bundesarchivs (http://www.bundesarchiv.de/geschichte_euthanasie/).

[2] BArch R 3001/ 24209.

[3] Einzelne Ärzte oder auch Leiter von Einrichtungen wie die der v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld widersetzten sich den Maßnahmen und machten dies in einer begrenzten Öffentlichkeit ebenso wie der evangelische Bischof Wurm in Württemberg und der katholische Bischof Kardinal von Galen in Münster bekannt.

[4] Vgl. Peter Sandner, Die Euthanasieakten im Bundesarchiv. Zur Geschichte eines lange verschollenen Bestandes. in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47, 1999, S. 385–400 (http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1999_3.pdf).